Von Matthias Schnetzer,
Wirtschaft und Gesellschaft, 46. Jahrgang (2020), Heft 4
2020 zählt das „Forbes“-Magazin in Russland 99 Milliardäre mit einem Vermögen von insgesamt mehr als 380 Mrd. US-Dollar. Die russischen Superreichen üben eine besondere Faszination aus, denn ihr exorbitanter Reichtum ist kaum drei Jahrzehnte alt und wird gerne ostentativ zur Schau gestellt. Wenn riesige russische Jachten die Häfen europäischer Nobelorte wie Monaco ansteuern, rümpft die alteingesessene Elite die Nase, denn der protzige Lebensstil entspricht nicht den vornehmen Gepflogenheiten des alten Geldadels. Doch die russischen Neureichen betreiben intensive Imagepflege und arbeiten an ihrer Anerkennung im bürgerlichen Lager. „Rich Russians“ von Elisabeth Schimpfössl bietet einen spannenden und intimen Einblick in die Welt der russischen Eliten, ihre Selbstwahrnehmung sowie die Umstände, die ihren Reichtum ermöglichten.
Elisabeth Schimpfössl ist eine österreichische Soziologin, die aktuell an der Aston University in Birmingham forscht und lehrt. Studienabschlüsse in Soziologie, Geschichte, Politikwissenschaft und Russlandstudien machen sie zu einer versierten und interdisziplinären Expertin in Russlandfragen. In ihrer Forschung folgt Schimpfössl der wissenschaftlichen Tradition von Pierre Bourdieu, Max Weber, Werner Sombart oder Thorstein Veblen.
Kern des Buches ist eine soziologische Untersuchung, wie aus teils konkurrierenden russischen Oligarchen mit der Zeit eine soziale Klasse, eine russische Bourgeoisie wurde. Denn historisch hatte sich in Russland nie ein so starkes Bürgertum wie in England oder Frankreich etabliert – nicht in der Zarenzeit, und schon gar nicht nach der Russischen Revolution 1917. Ausschlaggebend für die exorbitanten Vermögen der neuen Reichen waren somit nicht Erbschaften innerhalb einer bürgerlichen Klasse, sondern die im Rahmen beispielloser Privatisierungswellen ermöglichte Aneignung vormals staatlichen Eigentums.
Schon die ersten Seiten lassen vermuten, welch großer Aufwand in der Recherche betrieben wurde.1 Das Buch ist vollgepackt mit Namen und Biografien, politischen Hintergründen und historischen Fakten. Zwischen 2008 und 2017 führte Schimpfössl 80 qualitative Interviews in der russischen Oberschicht, unter den Interviewten etwa ein Drittel mit einem Vermögen von mehr als 500 Mio. Dollar und zahlreiche Milliardäre.2 Aber auch die meisten anderen InterviewpartnerInnen besitzen mehr als 50 Mio. Dollar und zählen zu den reichsten 0,1% der russischen Gesellschaft
Schimpfössl führte ausführliche biografische Interviews über die Familiengeschichte, Wertvorstellungen, Hobbys, die Hintergründe für den eigenen Reichtum, Einstellungen zum Westen, Geschlechterrollen, Zukunftshoffnungen und viele andere Fragen. Die Suche nach InterviewpartnerInnen gestaltete sich naturgemäß sehr aufwändig: Die Autorin musste oft lange Wartezeiten und mehrmalige Verschiebungen in Kauf nehmen, Interviewte wollten den Gesprächsverlauf und Themen selbst bestimmen oder zogen ihre Zustimmung zur Veröffentlichung sogar nach dem Interview noch zurück. Umso wertvoller ist das publizierte Ergebnis, das seltene Einblicke in eine nahezu unzugängliche Gesellschaftsschicht erlaubt ihre Chefs verkauften. Als Russland Mitte der 1990er in Schwierigkeiten bei Pensionsauszahlungen geriet, wurden Privatisierungen auf nahezu alle Wirtschaftsbereiche ausgeweitet und beschleunigt.
Für den raschen Aufstieg war ein schwieriger Spagat zu bewältigen. Man musste weit genug vom alten Partei-Establishment entfernt sein, um Geschäfte unabhängig und mit allen Freiheiten entfalten zu können. Zugleich aber war die Nähe zum Staatsapparat wichtig, um vom Ausverkauf profitieren zu können. Der Rest ist Geschichte: Das politische Establishment und ihm nahestehende Oligarchen schufen ein System, in dem eine Hand die andere wusch. Es war der rasante Aufstieg der Telekom-Giganten, Medienmogule und Ölbarone.
Obwohl viele Oligarchen unter Präsident Putin in den 2000er-Jahren in Ungnade fielen, wuchs in dieser Zeit die Zahl der Reichen, die nicht durch Öl, Gas oder Kohle, sondern durch Finanzwirtschaft, Informationstechnologie, Immobilien und Handel reich wurden. In dieser Dekade entstand zwar auch eine russische Mittelschicht, doch währenddessen schossen die Vermögen der Reichsten in den Himmel, und Russland wurde zum Land mit der weltweit größten Vermögensungleichheit.
Das rückte die Profiteure der Privatisierungen in der Bevölkerung allerdings in ein schlechtes Licht. Vor allem seit der globalen Wirtschaftskrise 2008 und der Rubelkrise 2014 sind die reichen Russen um ihre gesellschaftliche Anerkennung besorgt. Sie wollen ihren Reichtum von der Bevölkerung gebilligt wissen und ringen um Akzeptanz in einer ungleichen Gesellschaft, die den Superreichen misstrauisch gegenübersteht.
Mehr als die Hälfte der russischen Bevölkerung ist laut Umfragen überzeugt, dass man mit ehrlichen Mitteln nicht reich werden kann. In Reaktion haben die reichen Russen Ressourcen für kulturelle und soziale Zwecke lockergemacht, um sich als respektierte, aber auch politisch mächtige Klasse zu konstituieren. Sie eigneten sich noble Umgangsformen und kultivierte Verhaltensweisen an, entdeckten ihre Familiengeschichten, engagierten sich philanthropisch und entwickelten Narrative, die ihre privilegierte Position legitimieren sollten. Oft wurden dazu familiäre Wurzeln in der russischen Intelligenzija ausgegraben und aufpoliert. Sie versuchten den Mief der Neureichen abzustreifen und sich ein bürgerliches, gehobenes Image zu geben, beschreibt Schimpfössl.
Im Buch wird die ostentative Demonstration von Bodenhaftung mit illustrativen Beispielen aus den Interviews belegt. Eine lange Ehe wurde wichtiger als eine junge Freundin, der Kleidungstil bei Außenauftritten bescheidener – manche trugen demonstrativ gebrauchte Kleidung –, und man legte Wert auf Fahrten in öffentlichen Verkehrsmitteln statt in Limousinen. Immer wieder betonen die Reichen in den Gesprächen mit Schimpfössl ihre Herkunft aus einfachen Verhältnissen, um so die eigene Leistung für den sozialen Aufstieg in den Blickpunkt zu rücken.
Die Zahlen sprechen eine etwas andere Sprache: Mehr als vier Fünftel der russischen Elite zu Anfang der 1990er-Jahre hatten schon vor der politischen Wende eine privilegierte Position, wenn auch nur in der zweiten oder dritten Reihe. Einige Beispiele im Buch zeigen den inneren Konflikt zwischen der Betonung der einfachen Herkunft und der stolzen Familiengeschichte. Ein Telekom-Milliardär verwandelt innerhalb des Interviews die einfachen Verhältnisse („I’m a simple man. My family goes back to workers and peasants.“) in eine angesehene Dynastie („My greatgrandfather was a famous man in Moscow. […] He sat in the pre-revolutionary Moscow duma and owned seventeen houses.“).
Immer wieder kommt in den Interviews die ideologische Nähe zum Neoliberalismus durch, dessen radikaler Umsetzung viele russische Neureiche ihren Erfolg verdanken. Das äußert sich teilweise in der Verehrung von Augusto Pinochet, der in der chilenischen Militärdiktatur ab den 1970ern freie Märkte mit Waffengewalt durchsetzte und dessen Name in mehreren Interviews fällt. Aber auch in der offen unterstützten Leistungsideologie, wonach alle ihr Glück selbst in der Hand hätten.3 Ein Unternehmer meint: „I didn’t think about the poor back then; in fact, I don’t think about them today either. […] They will help themselves – well, as long as they are not lazy or idiots – then they’ll go figure something out.“ Ein anderer zeigt ebenfalls wenig Verständnis: „If you don’t have money, get a scholarship. At university nobody cares whether you are wealthy or not.”
Außerdem gibt es zwei Erfolgsfaktoren, die sich die Reichen auf ihre Fahnen schreiben: Gott und Gene. Während die einen ihren starken religiösen Glauben betonen, sehen sich andere als genetisch dem Rest der Bevölkerung überlegen. Und dann gibt es am anderen Ende des Spektrums noch jene, die ein ganz besonders unerwartetes Vorbild haben: „Someone I see as my role model? Karl Marx. Of course, there is a lot of utopia in Marx, but utopian ideas are not so bad after all.“ Es sind auch solche Zitate in Schimpfössls Buch, die einen lebhaften Eindruck von der Gedankenwelt der russischen Oberschicht vermitteln.
So divers Russlands Reiche sind, die meisten eint der Wunsch nach einem besseren Image in der Bevölkerung. Das Bild vom eigensinnigen und rücksichtslosen Oligarchen der 1990er-Jahre soll dem eines gutbürgerlichen, ehrlichen und menschenfreundlichen Wohlhabenden weichen. Es wundert nicht, dass philanthropische Initiativen deutlich zugenommen haben und sich so mancher Reiche dem Bau von Museen widmet, um das kulturelle Erbe Russlands der Allgemeinheit zu sichern, oder sich notleidender Kinder annimmt. Die ehemaligen Raubritter wollen zu respektierten Gentlemen werden, die Oligarchie gern zur Bourgeoisie. An dieser Stelle sei erwähnt, dass das in dieser Rezension meist verwendete Maskulinum kein Zufall ist. Ein ganzes Kapitel widmet Schimpfössl den Geschlechterverhältnissen in Russlands Oberschicht und kommt zum Schluss, dass diese Welt eine fast ausschließlich männliche, patriarchale ist.
„Rich Russians“ zeigt den Aufstieg der russischen Oberschicht in der jüngeren Geschichte vor dem Hintergrund der politischen und wirtschaftlichen Verwerfungen nach dem Ende der Sowjetunion. Ihre soziologische Analyse legt dar, wie die russischen Neureichen zu einer von Pierre Bourdieu charakterisierten classe dominante wurden: einer sozialen Klasse, die neben wirtschaftlicher Macht auch kulturelle und gesellschaftliche Hegemonie erreicht hat. Dabei verspüren sie ein Zusammengehörigkeitsgefühl, haben also ein Bewusstsein für ihre eigene Klasse entwickelt, denn sie eint ihr Interesse an möglichst stabilen sozialen Verhältnissen, um ihren Reichtum abzusichern. Elisabeth Schimpfössl liefert mit ihrem Buch einen interessanten Streifzug durch die jüngere Geschichte Russlands, spannende Einblicke in die Gedankenwelt einer sonst unzugänglichen Gesellschaftsschicht und nicht zuletzt durch viele amüsante, provokante und verblüffende Interviewpassagen eine kurzweilige Lektüre.
- Einen ähnlich großen Rechercheaufwand hat auch die Journalistin Chrystia Freeland für ihr Buch „Die Superreichen“ (2013) betrieben, das mehrmals von Schimpfössl zitiert wird und vermutlich ein wenig als Vorlage diente.
- Durch den Fokus auf qualitative Interviews unterscheidet sich das Buch Schimpfössls von Arbeiten des Elitenforschers Michael Hartmann, der seine Analyse in „Die globale Wirtschaftselite“ (2016) überwiegend quantitativ fundiert.
- Ähnliche Einblicke bietet der jüngst in Wirtschaft und Gesellschaft veröffentlichte Artikel von Hannah Quinz „Subjektive Wahrnehmung und Legitimierungsstrategien von VermögenserbInnen“ (WuG 1/2020) auf Basis von Interviews mit ErbInnen großer Vermögen.