21.07.2018, Julia Smirnova
Die Österreicherin Elisabeth Schimpfössl forscht über die russische Elite. In den letzten Jahren hat sie Dutzende Milliardäre, Millionäre, ihre Frauen und Kinder interviewt. Sie erklärt, wie sie sich selbst, Russland und den Westen sehen.
WELT:: Sie haben für Ihr Rechercheprojekt einen besonderen Zugang zu Russlands Superreichen. Wie haben Sie diese Luxuswelt erlebt?
Elisabeth Schimpfössl: Die Zeiten, in denen es in Russland wichtig war, den Reichtum direkt zur Schau zu stellen, ändern sich. Die heutige russische Elite will immer häufiger als respektable Bourgeoisie wahrgenommen werden. Die Reichen (/kultur/literarischewelt/article177706110/Vitaly-Malkin-Dieser-russische-
Oligarch-will-jetzt-Europa-retten.html) haben sich viel vom Lebensstil der westlichen Elite angeeignet, zum Beispiel schönes Essen oder bescheidenere Kleidung. Doch die soziale Interaktion ist sehr eigenartig. In Russland spielen reiche Männer gerne ihre Macht aus. Ich habe einmal erlebt, wie ein Milliardär auf einem Dinner demonstrativ
eingeschlafen ist, um zu zeigen, wie langweilig er die Powerpoint-Show über die Ferien seiner Freunde findet.
WELT: Was sind denn die neuen Statussymbole?
Schimpfössl: Ich fand es eindrucksvoll, wie viele meiner Gesprächspartner ein Museum gegründet haben oder eins gründen wollten. Mehr und mehr Reiche interessieren sich für Kunst und Bildung. In den 90er-Jahren suchten in Russland viele nach adeligen Vorfahren. Heute heben Superreiche mit Stolz hervor, dass sie aus der sowjetischen „Intelligenzija“, also aus gebildeten intellektuellen Familien, kommen.
WELT: Die heutigen Superreichen sind noch zu Zeiten des Kommunismus geboren und groß geworden. Wie erinnern sie sich daran?
Schimpfössl: Viele loben die sowjetische Schulbildung und sehen die verloren gegangene Lesekultur mit Nostalgie. Dann kommen meistens romantisierte Erzählungen über die Jugend in den 70er-Jahren, in der Breschnewzeit. Viele erinnern sich an gutes Leben, Lagerfeuer mit Freunden und Lieder von den Beatles, die sie gehört haben.
WELT: Man hätte das von Menschen, die dank des Kapitalismus der 90er-Jahre reich geworden sind, nicht erwartet.
Schimpfössl: Die meisten von ihnen kommen aber aus Familien, die schon in derSowjetunion privilegiert waren und einen besseren Lebensstandard hatten. Das waren Kinder von Universitätsprofessoren, Betriebsleitern oder hochrangigen Mitgliedern der Kommunistischen Partei. Sie konnten also ihre Kindheit in der Breschnewzeit
(/politik/deutschland/article168995447/Zu-lang-im-Sessel-In-Lettland-wird- Merkel-mit-Breschnew-verglichen.html) genießen. Interessant ist aber, dass die meisten, obwohl ihnen dieser Hintergrund als Statussymbol sehr wichtig ist, die Startvorteile, die er ihnen bot, nicht wahrhaben wollen. Stattdessen bauen sie den Mythos auf, sie seien „selfmade“, haben also alles nur dank ihrer eigenen Anstrengungen erreicht.
WELT: Hat es Konsequenzen darauf, wie sie andere Menschen in Russland sehen, die Ärmeren, die es nicht geschafft haben?
Schimpfössl: Das Überheblichkeitsgefühl ist bei den meisten sehr stark ausgeprägt. Manchmal ist es auch ein moralisches Überlegenheitsgefühl, verbunden mit dem Wunsch, die vermeintlich dumme Bevölkerung aufzuklären und ihr zivilgesellschaftliche Werte beizubringen. Einige unterstützen Sozialprojekte, aber vorwiegend für Kinder. Projekte für Drogenabhängige oder ehemalige Häftlinge sind dagegen nicht beliebt. Das ist eine sozialdarwinistische Einstellung: Wer einmal seine Chance im Leben vertan hat, soll keine zweite Chance bekommen. Oft ist hier auch ein Vertrauensproblem. Viele sehen nur Kinder mit ihrer Unschuld als unterstützungswürdig.
WELT: Haben reiche Russen Einfluss auf die Politik?
Schimpfössl: Ja und nein. Einzelne Milliardäre oder Chefs der großen regierungstreuen Medienunternehmen haben Einfluss. In den letzten paar Jahren war bei Interviewpartnern aber auch die Angst zu spüren, die Regierung öffentlich zu kritisieren. Einer der Milliardäre beklagte sich im Gespräch über die politische Situation in Russland, bis er über seine eigene Offenheit erschrak und fast verängstigt nachfragte, was ich mit dieser Aufzeichnung denn machen würde. Dabei hatte er eigentlich nichts besonders Arges gesagt. Es ist gerade viel Paranoia im Raum. Bei vielen ist alles so organisiert, dass sie innerhalb von zwei Tagen mit Kind und Kegel im Westen sein können, wenn sich die politische Situation verändert oder sie selbst in Gefahr sind.WELT:: Sie müssen also permanent mit der Angst (/politik/ausland/article173529275/Unfrei-aber-stark-Wie-Chodorkowski-zehn-Jahre-Haft-ueberstand.html) leben, ihren ganzen Reichtum jederzeit verlieren zu können?
Schimpfössl: Es gibt Beispiele, dass es tatsächlich passiert. Der Milliardär Sijawudin Magomedow
(/newsticker/dpa_nt/infoline_nt/schlaglichter_nt/article175054420/Festnahmewegen-Veruntreuung-bei-WM-Stadionbau-in-Kaliningrad.html), einer meiner Interviewpartner, sitzt gerade in U-Haft. Manche vermuten hinter seiner Festnahme interne Machtkämpfe auf der höchsten Ebene. Andere sehen es als Versuch, die Elite in
der Krisenzeit unter Kontrolle zu bringen. Das könnte ein Signal gewesen sein: Wer wie Magomedow staatliche Aufträge bekommt, soll das Geld gefälligst in Russland investieren und es nicht rausschaffen. Ein anderer Interviewpartner, Boris Mints, musste Ende Mai schnell mit der ganzen Familie nach London ausreisen.
WELT: Wünschen sie sich in dieser Situation nicht mehr Rechtsstaatlichkeit?
Schimpfössl: Ihr Verhältnis zum Rechtsstaat ist gespalten und von Eigeninteresse geprägt. Zum einen sind sich viele sicher, dass man in Russland einfacher und unbürokratischer Geschäfte machen kann als im Westen. Auf der anderen Seite schätzen sie den westlichen Rechtsstaat, wenn es dazu kommt, das eigene Vermögen zu schützen. Diejenigen, die ihr Geld schon längst in den Westen geschafft haben, sind viel entspannter als jemand wie Oleg Deripaska, der vom Kreml völlig abhängig ist.
WELT: Kann man sich vorstellen, dass sich die Reichen vereinen, um politische Veränderungen in Russland durchzusetzen?
Schimpfössl: Kaum jemand von ihnen will eigentlich zu starke Veränderungen, weil jede Veränderung Unsicherheit und damit potenziell ein Risiko für das eigene Vermögen mit sich bringt. Viele geben sich daher doch lieber mit dem Status quo zufrieden. Einige wünschen sich liberale Wirtschaftsreformen zum eigenen Vorteil. Als der Milliardär Michail Prochorow 2012 für das Präsidentenamt kandidierte, schlug er vor, eine 60-Stunden-Arbeitswoche und eine komplette Privatisierung des Gesundheitssystems einzuführen. Für viele der Superreichen war der chilenische Diktator Augusto Pinochet mit seinen neoliberalen Reformen lange ein Vorbild.
WELT: Was halten sie von Putins Kurs auf Konfrontation mit dem Westen?
Schimpfössl: Milliardäre finden es eher schlecht, auch wenn sie ungerne ins Detail gehen. Es gibt aber andere, die sagen, Russland sei eine eigene Zivilisation, ein Bollwerk konservativer Werte, das den liberalen Westen nicht braucht.
WELT: Dabei wollten doch so viele reiche Russen (/wirtschaft/article176795779/Roman-Abramowitsch-Russischer-Milliardaer-istjetzt-Israeli.html) Teil der westlichen Elite werden, wie kam es dann zu dieser Überheblichkeit?
Schimpfössl: Viele fühlen sich gekränkt, weil sie vom Westen nicht akzeptiert werden. Sie sind durch Stereotype beleidigt, die im Westen wiederholt werden. Und die jetzige russische Politik der Abschottung verstärkt dieses Narrativ. Das ist keine entspannte Überlegenheit, sondern ein starker Wunsch nach Anerkennung.
WELT: Viele der russischen Superreichen leben gerne im Westen und schicken Kinder auf Schulen und Universitäten in Europa und in den USA. Wie prägt es die junge Generation?
Schimpfössl: Viele der Kinder von Superreichen sind auf Russland fixiert, auch wenn sie viel Zeit im Westen verbracht haben. Wenn sie im Westen in die Schule gegangen sind, sind sie kosmopolitischer und toleranter, zum Beispiel Schwulen gegenüber. Aber nur vereinzelt teilen sie das westliche Demokratieverständnis, und sogar unter jungen Menschen, die ihre gesamte Bildung im Westen erhalten haben, finden sich Stalinverehrer. Diese Generation wird irgendwann viel Einfluss in Russland haben, aber ich würde nicht zu stark darauf hoffen, dass ausgerechnet sie das neue demokratische Russland aufbauen.
WELT: Mit Sanktionen gegen einzelne regierungsnahe Oligarchen will der Westen versuchen, Druck auf Putin auszuüben. Wie wirksam sind solche Maßnahmen?
Schimpfössl: Ich glaube, dass individuelle Sanktionen sehr wohl etwas bewirken können. Auch wenn sich die Reichen vom Westen gekränkt fühlen, ist es eine schreckliche Vorstellung für sie, den Westen nicht mehr zur Verfügung zu haben. Dann sind sie dem Kreml noch mehr ausgeliefert. Wiktor Wekselberg hat zum Beispiel viele Verwandte in den USA, darf jetzt aber nicht einreisen. Jene, die in Gefahr sind, unter Sanktionen zu fallen, würden, glaube ich, Putin gegenüber sehr schnell für eine Deeskalation mit dem Westen plädieren. Wirtschaftssanktionen haben den gegenteiligen Effekt. Der Kreml nutzt diese sehr geschickt in seiner Propaganda. Das geht bei Sanktionen gegen eher unbeliebte Oligarchen nicht so gut.